Title: Tom Waits: Familienmensch
Source: WOM magazine (Germany). October, 2004. By Michael Ernst. Transcription as published on WOM official site. �WOM Media Network 2004.
Date: published October, 2004
Keywords:

Magazine front cover: WOM magazine. October, 2004. Photography by Anton Corbijn

Accompanying pictures
Also printed in Rockdelux magazine (Spain). Issue October, 2004. Date: ca. 2004. Credits: unknown (Anton Corbijn?)
Two pages from article. Credits: photography unklnown (Anton Corbijn?)


 

Tom Waits: Familienmensch

 

Jahrzehntelang hat der S�nger, Komponist und Schauspieler Tom Waits an seinem schr�gen Image gebastelt. Der harte Trinker, der Penner, der Melancholiker, der Bar-Poet oder, wie in einem seiner j�ngsten Songs, der Prediger, der mit seiner Waffe wedelt. Real Gone, das neue Album des 54-J�hrigen, bietet wieder genug skurrile Kl�nge und Geschichten, um alle Facetten seines Images zu unterst�tzen. Und gleichzeitig startet auch noch die n�chste Generation Waits mit durch...

WOM Magazin: F�r das neue Album hatten Sie zun�chst nur Kl�nge und Rhythmen mit Ihrer Stimme daheim im Badezimmer aufgenommen. Tom Waits als Human Beatbox. Das war Ihnen dann aber offenbar nicht genug. Sie haben sich noch eine Band f�r weitere Aufnahmen geholt.

TOM WAITS: Ja, ich mag die Bruderschaft und die Kameradschaft. Und ich lass mich gern von den Beitr�gen anderer Leute �berraschen. Ich wollte das Ganze etwas aufpeppen, etwas Stoff an die Fenster h�ngen, ein paar farbige Lampen anschalten, dem Raum einen Holzboden und einen Anstrich verpassen. Was ich zuvor in den H�nden hatte, war letztlich nur Brot und Wasser, ein dreibeiniger Tisch, absolut rudiment�r. Dann siehst du dir die Sache noch einmal genau an, und denkst dir: "Wei�t du was? Da werde ich jetzt noch etwas Rot und etwas Gelb hinzuf�gen." Das probierst du dann einfach aus, und wenn es nicht funktioniert, dann versuchst du eben etwas anderes.

Bei diesem Ausleseverfahren ist offenbar auch Ihr Piano unter die R�der gekommen.

Ja, es ist einfach gut, sich ab und zu eine Hand auf dem R�cken festzubinden und sich zu zwingen, im Rahmen dieser Einschr�nkungen zu arbeiten. Das kann alles sein. Der Verzicht auf ein herk�mmliches Schlagzeug zum Beispiel. Jedes musikalische Genre hat seine eigenen Verkehrsregeln, seine eigenen Verordnungen. Versuch doch mal, ein Banjo zu einer Heavy-Metal-Session mitzubringen. Die lachen dich aus.

Wo haben Sie Ihr neues Album eingespielt?

Das haben wir in einem alten Schulgeb�ude im kalifornischen Sacramento-Delta gemacht. Ich wollte das Album nur nicht in einem traditionellen Studio aufnehmen. Meiner Meinung nach ist es sehr kompliziert, etwas Lebendiges mit einer Aufnahme festzuhalten. Ebenso gut k�nnte man versuchen, Geister in einer Fotografie festzuhalten oder V�gel einzufangen.

In Ihren Texten kommen mal wieder einige Menschen unter die Erde, w�hrend es musikalisch auf "Real Gone" stellenweise sehr lebendig zugeht. Der "Metropolitan Glide" ist zum Beispiel ein geradezu tanzbares St�ck. Gibt es dazu ein paar bestimmte Tanzbewegungen?

Nun, der "Metropolitan Glide" geht auf eine lange Tradition von Tanzlehrst�cken zur�ck. So etwas gibt es doch schon seit einer Ewigkeit, angefangen mit dem Cakewalk oder dem Hokey Pokey. Es gibt bestimmt �ber hundert T�nze dieser Art. "The Mashed Potatoes", "The Bird", "The Grind", "The Boogaloo".

Welcher Tanz war zu Ihrer Jugendzeit popul�r?

"The Swim" (lacht und macht dazu ein paar Brustschwimmbewegungen). So ungef�hr geht der Swim. Den habe ich gemocht. Der "Metropolitan Glide" ist zwar nicht der Twist, aber ich bin sicher, er wird sich durchsetzen. Chubby Checker hat im Grunde das Konzept entwickelt, voneinander getrennt zu einem Beat zu tanzen. Das war sein Beitrag zur unserer Kultur.

Und zum "Metropolitan Glide" sollte man eine Surferhaltung einnehmen?

Das muss jeder selbst rausfinden. Ich habe ein paar Anregungen gegeben. Au�erdem werden in dem Text von "Metropolitan Glide" noch weitere T�nze erw�hnt. Wer also den "Metropolitan Glide" erlernt, sollte sich zus�tzlich mit dem "Low Bottom", dem "China Moon", dem "Black Swan" und dem "Way Too Soon" auseinander setzen.

Alles Satzfetzen aus Ihrem Songtext.

Genau. Und da gibt es auch den "Ace Pocket", den "Dog Bone Gone", den "Peacock" und den "Mean Black Swan", der geht wiederum anders als der "Black Swan". Es stecken also eine ganze Menge Informationen in diesem Song.

Ihre raue Stimme ist nach wie vor wesentliches Stil-Element. Arbeiten Sie daran, Ihre Stimme in diesem Zustand zu bewahren? So wie andere K�nstler zum Gesangsunterricht gehen?

Im Grunde mache ich gar nichts. H�chstens dann, wenn ich auf Tournee gehe. Wenn ich an drei oder vier Abenden Konzerte gebe, dann belastet das die Stimme nat�rlich. Die Art, in der ich singe, ist nicht besonders schonend. Das ist sehr angespannt und so als ob du st�ndig etwas in deine Kehle stopfen w�rdest. Dann muss ich meine Stimme einfach etwas schonen. Ich gehe zu dem Stimmen-Doktor, der auch Frank Sinatra betreut hat. Da werde ich versorgt. Manchmal bekomme ich eine Spritze, eine Aromatherapie oder eine Akupunktur-Behandlung.

Zu viel Pflege darf es auch nicht sein, sonst klingt Ihre Stimme am Ende sogar zu sanft.

Noch ist es nicht so weit, ich habe immer noch meinen eigenen Charakter. Man geht ja schlie�lich zu einem Spezialisten, um die Eigenheiten der Stimme zu bewahren, damit man noch m�glichst lang so weitermachen kann.

Sie haben im Laufe der Jahrzehnte so viele Au�enseiter und schr�ge Typen f�r Ihre Songs kreiert, dass viele Leute davon �berzeugt sind, Sie selbst seien so ein schr�ger Vogel. Der Typ Landstreicher, der zwei Schachteln Zigaretten am Tag raucht und mit dem �rtlichen Spirituosenh�ndler gut befreundet ist. Stattdessen leben Sie scheinbar seit vielen Jahren mit Ihrer Familie ein gesetztes Leben im n�rdlichen Kalifornien.

Den Spirituosenh�ndler kenne ich jedenfalls nicht. Seit 13 Jahren habe ich keinen Drink mehr anger�hrt. Was das gesetzte Familienleben angeht. ich wei� nicht. Die Dinge, die im Kopf eines anderen vorgehen, sind immer eine �ble Nachbarschaft. Meine Gedanken sind eine wirklich �ble Nachbarschaft. Auf die Vorstellungen anderer Leute sollte man nicht so viel geben.

Ist das auch die Nachbarschaft, in der der Prediger lebt, der mit seiner Waffe wedelt? Wieder so eine typische Waits-Figur aus Ihrem neuen Song "Shake It".

M�glich. Als ich diese Zeile, "I feel like a preacher waving a gun around", geschrieben habe, dachte ich an Bill Hicks. Das ist vermutlich der wichtigste amerikanische Komiker seit Lenny Bruce. Er ist 1994 gestorben. Er war sehr lustig und hatte einen sehr dunklen und verdrehten Humor. Bill Hicks ist dieser Prediger. Oder Jerry Lee Lewis - auch so ein Waffen wedelnder Prediger.

Ihr Sohn Casey hat jetzt auf einigen St�cken mitgespielt. Percussion und Turntables. Mussten Sie besonders vorsichtig mit ihm umgehen?

Mit jedem Musiker muss man sehr vorsichtig sein. Sonst besteht die Gefahr, dass du die Pfannkuchen anbrennen l�sst. Du musst genau wissen, wann und wie du etwas Bestimmtes sagst. Wie sagt ein Regisseur einem Schauspieler, dass er eine Szene besser etwas ruhiger angeht oder einen Zahn zulegt? Sollte er ihm die Szene einfach einmal vorspielen? Oder sollte er besser warten, bis der Schauspieler selbst den richtigen Dreh findet?

Sie sind also mit Ihrem Sohn ganz genau wie mit jedem anderen der Musiker umgegangen?

Nein, ganz anders. Du musst genau wissen, was du zu einer bestimmten Person sagst. Du navigierst in einem fremden Bereich, l�ufst gewisserma�en durch einen dunklen Raum. Du musst dir immer wieder ganz neue Wege zur Kommunikation ausdenken. Mit manchen Leuten sprichst du vielleicht besser in Farben: "H�r zu, dieses Rot funktioniert einfach nicht f�r mich." F�r andere musst du eine andere Sprache w�hlen: "Vielleicht klappt es, wenn du es ein wenig an den R�ndern anbrennen l�sst." Oder "Mach hier ein paar Knoten rein und lass es dann ausfransen." Oder: "Spiel es so, als ob du zu sp�t zur Arbeit kommen w�rdest". Oder: "Spiel, als ob du bereits seit drei Tagen keinen Schlaf bekommen h�ttest." Jeder braucht seinen eigenen Ansatz, und es liegt an dir, den richtigen Zugang zu finden.

Hat dabei der Vater mehr vom Sohn oder der Sohn mehr vom Vater gelernt?

Ich wei� nicht, was mein Sohn auf musikalischer Ebene von mir gelernt hat. Ich glaube, dass ich mehr von ihm gelernt habe.

N�mlich? Die Sache mit den Turntables?

Oh ja, das sind seine Helden. Meine Musik h�rt er sich nicht an. Ich h�re mir die Musik alter und toter Leute an. Da lacht er nur. Dabei w�rde es die Sachen, die er sich anh�rt, �berhaupt nicht geben, wenn es die Typen, deren Musik ich mir gern anh�re, nicht gegeben h�tte.

Aber wenn er sich an den Aufnahmen von "Real Gone" beteiligt hat, dann muss er sich doch einigerma�en damit wohl f�hlen.

Nun, er hat Geld daf�r erhalten.

Dann ging es Ihnen also nicht darum, eine billige Arbeitskraft zu gewinnen?

O nein (lacht). Er ist p�nktlich gekommen, hat seine Ausr�stung mitgebracht, ist bis zum Ende der Arbeit geblieben und hat sein Geld daf�r bekommen.

Macht Casey auch seine eigene Musik?

Vor allem ist er ein Skater. Er trifft sich mit Freunden und macht Musik. Fr�her oder sp�ter wird er seine eigene Gruppe bilden, da bin ich mir ganz sicher.

Was ist mit Sullivan (12), Ihrem zweiten Sohn? Interessiert der sich ebenfalls f�r Musik?

O ja, er spielt Gitarre.

Dann wird er m�glicherweise auch einmal auf einem der k�nftigen Tom-Waits-Alben spielen?

Nat�rlich, er war sogar bereits an den Aufnahmen f�r dieses Album beteiligt. Der entsprechende Track ist am Ende nur nicht auf das Album gekommen.

Album:
TOM WAITS - REAL GONE
Rock: Experimente auf traditionellem Sockel. Klasse!
Das markante Organ ist geblieben, das Piano verbannt. Stattdessen experimentiert er u.a. mit Turntables sowie afrikanischen und lateinamerikanischen Rhythmen. Ein ganz neuer Waits, aber auch ein Vertrauter.

Erscheinungstermin: 4. Oktober
Autor: Michael Ernst

Notes:

N/A