Title: Tom Waits "Wenn Sie Heute Wirklich Etwas Suchen M�ssen, Dann Den Ausweg." Source: Galore magazine vol. 25 (Germany). January/ February 2007. By Andr� Bosse. Thanks to Pascal Fricke for donating scans. �2004 Galore magazine/ Dialog GmbH. Date: September 19, 2006 Little Amsterdam restaurant, Petaluma (USA). Published: December, 2006 Keywords: Orphans, songwriting, Road To Peace, inspiration Magazine front cover: Galore magazine vol. 25. December 2006 |
Tom Waits "Wenn Sie Heute Wirklich Etwas Suchen M�Ssen, Dann Den Ausweg."
19.09.2006, Petaluma bei San Francisco. Im Restaurant ,Little Amsterdam' ist Tom Waits oft, er wohnt ganz in der N�he. An der Wand h�ngen Fotos und Zeitungsausschnitte. Waits bestellt entkoffeinierten Kaffee und nimmt sich ein frisches Sandwich. Er ist guter Dinge und eine Stunde lang ein angenehmer Gespr�chspartner mit vielen Geschichten, Theorien und interessanten Fakten.
Tom Waits: (kauend) Haben Sie die Sandwichs besorgt?
Ja. Aus dem Laden in Valley Ford. Gleich hier in der N�he.
Eine h�bsche kleine Stadt. Ich glaube, die gibt es erst seit 150 Jahren. Aber nett, sehr nett. Ihr Europ�er steht auf so kleine amerikanische St�dte, nicht wahr?
Ja, denn man sp�rt dort die vergangenen 150 Jahre. Viele St�dte in Europa sind von Grund auf modernisiert. Vermissen Sie dieses typisch Amerikanische, wenn Sie mal in Europa unterwegs sind'?
Ich vermisse eigentlich grunds�tzlich keine Pl�tze, Ortschaften oder L�nder. Ich bin ein neugieriger Reisender. Wenn ich unterwegs bin, m�chte ich m�glichst alle Erfahrungen machen, die ein Reisender machen kann. Ich gehe in B�cherl�den, Shops f�r Instrumente, Antiquit�tengesch�fte, wandere den Fluss entlang, besuche Museen und Caf�s. Ich m�chte nachher viel mit nach Hause nehmen. Materielles, aber auch Eindr�cke.
Kennen Sie das Gef�hl von Heimweh?
Doch, doch. Ich habe Kinder. Sobald ich von der Familie weg bin, sp�re ich sehr schnell Heimweh. Es ist eine Binsenweisheit, aber es stirnmt: Menschen bestimmen den Ort an dem ich mich entspannt und ganz bei mir f�hle. Und dieser Ort ist mein Heim. Es ist ein gro�er Wert.
Ich war �berascht, wie viele Obdachlose man auf den Stra�en in San Francisco sieht.
Ja, in vielen anderen gro�en St�dten versucht man, die Heimatlosen zu verstecken. Aber sie sind �berall Realit�t. Nat�rlich st�ren sie das �u�ere Erscheinungsbild einer Stadt, aber ich ziehe es vor, die St�rung zu sehen, statt zu wissen, dass man sie vor mir versteckt.
Wenn Sie in einer f�r Sie fremden Stadt einen vielversprechenden Schallplattenladen entdecken: Wonach suchen Sie?
Ich habe gerade etwas aufgeschnappt. Eine urspr�ngliche Art von griechischer Musik, man nennt sie Rembetika. Sie hat Einfl�sse aus dem Orient und aus Asien, und ihre Verfechter halten sie f�r den definitiven Ursprung des Blues. In dem Plattenladen, den Sie beschrieben haben, w�rde ich einen Angestellten nach der Rembetika Abteilung fragen.
K�nnen Sie mir sagen, was eine perfekte Schallplatte ausmacht?
Balance. Das ist wie bei einer guten und kompletten Mahlzeit. Ein gutes Album hat gen�gend Proteine, Kohlenhydrate und Kalorien. (�berlegt) Es sollte schon eine symmetrische Angelegenheit sein und f�r viele Menschen etwas Bedeutungsvolles enthalten.
Ihr neues Album besteht aus drei CDs. W�re das perfekte Dreieck ein gutes Bild f�r diese Symmetrie?
Ich habe eine Schallplatte noch nie als ein Dreieck gesehen, aber f�r mich geht das Bild in Ordnung. (�berlegt) Man kann um dieses perfekte Dreieck dann einen Kreis malen Kreise sind ja nun wirklich das bestimmende geometrische Gebilde unseres Lebens. Sicher, die Welt ist eine Kugel, aber wer auch immer eine Kugel malen will: Er zeichnet einen Kreis. Sehen Sie, es gibt viele Menschen, die irgendwann in ihrem Leben m�glichst weit von zu Hause wegwollen. Sie fahren dann in weite Fernen und doch kommt irgendwann der Moment, an dem sie sich wie auf einem Kreis wieder ihrem Startpunkt n�hern. Es gibt allerdings auch Kreise, die irgendwann zu einer b�sen Spirale werden, weil eine Missetat auf die andere folgt. Man spricht dann von Kreisen der Gewalt und es f�llt den Menschen bei aller Intelligenz unglaublich schwer, diese Kreise zu brechen.
Sie haben mit "Road To Peace" einen sehr aktuellen Kommentar zu der politischen Situation im Nahen Osten geschrieben. Wie kam es zu dem Song?
Ich las einen Artikel �ber einen jungen, 18 Jahre alten pal�stinensischen Selbstmord Attent�ter in der,New York Times', und ein paar Zeilen in dieser Geschichte konnte ich nicht vergessen. Da hie� es zurn Beispiel, dass er sehr flei�ig studierte fast so, als habe er f�r sich eine Zukunft gesehen. Dar�ber habe ich lange nachgedacht. Auch, dass er sich f�r das Attentat wie ein orthodoxer Jude verkleidet hatte, brachte mich ins Gr�beln. Er muss eine genaue Vorstellung davon gehabt haben, wie die Menschen aussehen, die er mit sich in die Luft jagen wollte. All das ist f�r mich sehr mysteri�s. Es scheint mir und das ist keine sch�ne Erkl�rung , dass sehr gerissene Gehirnw�scher junge Menschen mit Ideologien vergiften, damit diese stellvertretend einen Kampf der alten M�nner weiterf�hren. Ich habe dann versucht, den Artikel als Lied noch einmal zu schreiben.
Sie hatten schon immer ein Faible f�r Menschen, die etwas Mysteri�ses tun.
Nat�rlich. Es ist meine Neugier. Aber wie wir alle schwebe ich immer in der Gefahr, dass aus Neugier Vorverurteilungen entstehen. Es ist nur allzu menschlich, sich umzuschauen und wie ein Radar festzustellen, ob es in der n�heren Umgebung mysteri�se Gestalten gibt die einem gef�hrlich werden k�nnten. Aber diese Art von Misstrauen bringt uns nicht weiter. Ich beobachte mittlerweile viele Menschen, die sich durch Misstrauen ein Sicherheitsgef�hl aufbauen. Die brauchen eine gewisse Unruhe, um sich wohl zu f�hlen. Andere wiederum haben sogar Angst, bestimmte W�rter zu benutzen.
Die da w�ren?
Toilettenpapier. (lacht) Manche Leute haben Angst davor, gr��ere Mengen an Toilettenpapier zu kaufen. Sie denken dann, die Kassiererin im Supermarkt k�nnte den Eindruck haben, dass sie nach Hause gehen und den Rest ihres Lebens auf der Toilette verbringen. Auch vor bestimmten Fl�chen haben die Leute Angst.
Wie ist das bei Ihnen in der Familie wird geflucht?
Als die Kinder noch klein waren, hatten wir tats�chlich ein Glas in der K�che, in das pro Fluch eingezahlt wurde. Die Idee war, die Energie des Fluchens zu transformieren.
Wie das?
Nun, mit dem Geld einen Baum zu kaufen oder irgendetwas Gutes. Leider waren die Kinder ziemlich gut sie konnten sich erstaunlich beherrschen. Eines Abends war die ganze Farnilie nach einem Ausflug unterhalb des H�gels, auf dem unser Haus steht, und meine Frau sagte: F�r die n�chsten f�nf Minuten, bis wir oben am Haus sind, d�rft ihr alles rauslassen, jedes Wort, das euch in den Sinn kommt. Haut es raus, Leute!". Wow, was f�r eine Befreiung. Die Kinder waren damals noch jung, daher waren die Fl�che nicht so richtig dreckig, eher lustig. (raunt) Pferdearsch! Doch, doch, schimpfen und fluchen befreit. Es ist nur schade, dass einige Sachen wie .Motherfucker' einfach zu oft benutzt werden. Zum Beispiel im HipHop.
Und dadurch verlieren sie ihre Bedeutung.
Ja, ich wei� noch, wie hart dieses Wort vor Jahren traf, wie viel Macht es hatte. Durch h�ufigen Gebrauch verliert es die Energie. (�berlegt) Ist es nicht seltsam, dass keiner mit neuen Fl�chen uni die Ecke kommt? Scheint so, als w�ren die Klassiker doch die besten. (�berlegt) Ich mag Klassiker. Sehen Sie sich dieses Buch hier an, eine Sammlung mit 1.001 interessanten Dingen.
Sie scheinen oft darin zu bl�ttern, so wie es aussieht.
Oh ja, es ist immer eine Quelle f�r Aspekte des Lebens, die einem sonst gar nicht auffallen. Zum Beispiel dieser hier. Ein weiblicher Kondorvogel legt nur alle drei Jahre ein einziges Ei. Stellen Sie sich vor, wenn mit diesem Ei etwas passiert... Und vergleichen Sie das mit der m�nnlichen Ejakulation und ihren 400 Millionen Spermien. Wussten Sie au�erdem, dass Ameisen sich Sklaven halten? Das ist ein Grundprinzip ihrer Gesellschaft.
Sie haben fr�her �ber betrunkene Pianos und vurruchte N�chte gesungen, heute erz�hlen Sie von der Bosheit einiger Insektenarten. Hat sich die Perspektive Ihrer Texte ver�ndert?
Egal �ber was ich in einem Song erz�hle, meine Theorie eines guten Liedes muss ich immer erf�llen. Zum Ersten muss ein Song ein Wetter haben. Dann den Namen einer Stadt und etwas zu essen. Ein Lied ist nichts anderes als ein unsichtbarer Ort. Ich als Musiker lade Sie dorthin ein und muss nun daf�r sorgen, dass es f�r Sie angenehm ist, sich dort aufzuhalten. Auf der neuen Platte sind sehr viele Balladen. Ich habe zu meiner Frau gesagt: "Das sind zu viele, die Leute schlafen mir ein." Aber sie sagte: "Tom, die Leute m�gen deine Balladen. Gib ihnen viele davon, sie werden sich freuen." Sie hatte die Idee, den ruhigen Teil des Albums "Shut Up And Eat Your Ballads" zu nennen.
Das h�tte aber sehr nach Pflichterf�llung geklungen.
Ich habe als Schreiber eines Liedes einige Pflichten, vergessen Sie das nicht. Ich bin ein Gastgeber. Die Ausstattung des unsichtbaren Ortes, �ber den wir eben sprachen, ist das wirkliche Handwerk eines Songwriters. Es ist ein sehr kindliches Spiel, denn der Songwriter baut sich mit einem Album Fantasiesiedlungen und f�hrt den H�rer von einer zur n�chsten. Mit jedem Song hebt sich ein anderer Vorhang.
Somit w�re der Zuh�rer ein reiner Betrachter. Warum aber nehmen einige Lieder den H�rer so sehr mit?
Wenn Leute wirklich von einem Lied mitgenommen sind, dann hat der Song ihnen in einer Art das Leben gerettet oder zumindest entscheidend ver�ndert. (�berlegt) Die Leute teilen Musik immer in zwei Kategorien ein: Sind die Lieder schneller oder langsamer als dein Herzschlag? Die schnellen bringen dir Leben bei, du h�rst sie morgens. Die langsamen Lieder beruhigen dich, und du h�rst sie vorzugsweise abends. Da die meisten Menschen vor allem abends die Mu�e haben, Musik zu h�ren, sind die Balladen so beliebt.
Haben Sie schon einmal ein Lied aufgenommen, das im Tempo variiert?
(�berlegt) Nein. W�re aber eine gute Idee, ich merke mir das mal f�r die n�chsten Aufnahmen.
Wenn Sie den einen Song nennen m�ssten, der Ihr Leben ver�ndert hat, welcher w�re es? .
"Abilene, Abilene, prettiest town that I've ever seen. Women there don't treat you mean, in Abilene, sweet Abilene." Wow, das Lied hat mich als Kind ber�hrt. Abilene ist eine Stadt in Texas, und als kleiner junge habe ich gedacht, dort m�sse das Paradies sein. So ein Song bringt ins Tr�umen. Das erging mir auch mit Harry Belafonte so. Seine Lieder klingen nach der Ferne, und er ist ein so sanfter, freundlicher Mann.
Hat er nicht auch eine gut aussehende Tochter?
Ja, Shari. Auch sie ist S�ngerin und Schauspielerin.
Harry und Shari. Das ist sch�n. (�berlegt) Es gibt ein sch�nes Album von ihm namens "Streets I Have Walked". Es ist eine Sammlung von Liedern, die er �berall auf der Welt gefunden und f�r diese Platte zusammengetragen hat. Eine Verbrechergeschichte aus Japan, ein israelisches Liebeslied, ein Festsong aus S�dafrika und so weiter. Songs �ber Orte zu schreiben ist gut, um sich an sie zu erinnern. Die beste Art, sich an San Francisco zu erinnern, ist ein Gedicht von Lawrence Ferlinghetti, eine Flasche Wein hier aus der Gegend und etwas gutes Brot.
M�gen Sie eigentlich die Art, wie junge Bands mit Stilen experimentieren?
Sie meinen nach dem Prinzip: Harry Belafonte singt wie Maria Callas im Siouxsie & The Banshees Sril? Musiker beginnen in den allermeisten F�llen damit, einen anderen Musiker, den sie bewundern, nachzumachen. Ray Charles klang fr�her wie Nat King Cole. Ich habe geklungen wie Ray Charles. Oder auf meinem noch recht jungen Lied "Metropolitan Glide" wie James Brown. Sagen wir: Ich wollte so klingen wie die beiden, aber das ging nat�rlich nicht. Es klang furchthar. Aber ich habe mein Bestes versucht, und irgendwie ist daraus etwas Eigenes gewachsen. Am Ende klinge ich wie Tom Waits, und auch, wenn viele Leute denken, ich sei einzigartig: Im Grunde bin ich das Resultat von misslungenen Kopien meiner Vorbilder.
Ist denn Individualit�t �berhaupt m�glich?
Jeder Teenager sitzt abends in seinem Jugendzimmer, geht die Typen in seiner Klasse durch und denkt sich: ich h�tte gerne die Haare von dem, den Musikgeschmack von ihm und die Intelligenz von einem dritten. Jeder Mensch bildet sich in dieser Phase selber aus St�cken von anderen Leuten. Wir sind alle kleine Frankensteins. (lacht) Irgendwann muss man die gro�e Leistung vollbringen, und sich trotz dieser Kombinationen als Individuum erkennen. Das geht aber nur, wenn man diesen Versatzst�cken eigenes Leben und einen eigenen Geist einhaucht. Wenn ich eine Stra�e entlang fahre, und wahllos Dinge vom Stra�enrand aufpicke, habe ich nachher einen vollen Kofferraum aber gehaltvoll ist es nicht. Ich muss mir schon �berlegen, welche Bedeutung die Sachen haben, bevor ich sie aufnehme.
Zumal es heute immer einfacher wird, alles ohne gro�e M�he �ber das Internet zu bekommen.
Das scheint zu stimmen, zumindest sagen es mir viele Leute. Man muss wohl nicht mehr so sehr um Dinge k�mpfen. Bob Dylan hat mal erz�hlt, in seiner Stadt habe es nur einen einzigen Menschen mit einer zw�lfsaitigen Gitarre gegeben. Den musste er erst einmal finden und Sie k�nnen sich vorstellen, wie aufgeregt er war, als er ihn zum ersten Mal besuchte. Er wird sich darauf vorbereitet haben, vielleicht hat er nachts von dieser zw�lfsaitigen Gitarre getr�umt. Sie war wie ein Mysterium. (�berlegt) Wichtig ist, dass man Hunger auf etwas hat. An allen Wendepunkten meines Lebens sp�rte ich gro�en Hunger. Es ist heute sehr einfach, ein Leben zu f�hren, ohne jemals ein Hungergef�hl zu sp�ren. Man muss sich selber H�rden aufbauen, um das Essentielle des Lebens zu erfahren. Musik �ber einen Computer abzuspielen ist etwas ganz anderes, als die Musik in sich einzusaugen oder sich vor den Spiegel zu stellen und den S�nger zu imitieren. Dann sind Sie mehr als ein Konsument, der sich bef�llen l�sst.
Glauben Sie, dass Menschen in den reichen L�ndern der Weh echtes Hungergef�hl �berhaupt noch kennen?
Ich bezweifle es. Sie k�nnen heute �berall essen. Im Auto, auf dem Weg zum Auto. Nehmen Sie die Highways, sie waren f�r die Beatnik Poeten wie Lebensadern. Heute sind Highways eine asphaltierte Ausstellungsfl�che f�r Fast Food Ketten und M�belh�user. Wenn Sie heute wirklich etwas suchen m�ssen, dann den Ausweg.
Notes:
N/A